DER TRAUM VOM COOLEN HOBBY: WO IST DIE PRICKELZONE
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Hast Du Dir bereits die coolsten Hobbies für Dein Kleinkind überlegt und schon mal sicherheitshalber recherchiert, ob bei euch in der Nähe ein Verein oder ein Lehrer dafür zu finden ist? Mein Rat dazu: Lass’ es. Wirklich. Investiere Deine Zeit in andere Dinge. Realistische Dinge, die Du selbst beeinflussen kannst. Kümmere Dich zum Beispiel lieber um Dich: lese ein gutes Buch, chille, grase, mache nix. Alles sinnvoller als zu glauben, Du könntest Deinem Kind ein Hobby aufdrücken. Kannste nämlich nicht. Außer mit Gewalt und das wollen wir ja net, oder?! Man will ja nur das Beschde für sein Kind. Heute erkläre ich Dir die Prickelzone.
Der Selbstfindungstrip
Warum ich weiß, warum das nichts bringt?! Ganz einfach, ich habe Viktor als Beweis. Witziges Kerlchen, leider bereits mit 3 Jahren voll auf dem Selbstfindungstrip – auf „selbst“ liegt hier die Betonung. Wir hatten uns wunderbare Dinge für ihn herausgesucht und waren teilweise 2 Jahre auf Wartelisten, um den jeweiligen Traum wahr werden zu lassen. Was passierte? Das Kind ging zum Musikunterricht, Judounterricht, Tanzunterricht (Liste lässt sich an dieser Stelle beliebig erweitern)… und danach? Spätestens nach dem 4. Mal war die Luft raus. Also völlig, nicht nur temporär. Selbst mit Engelszungen, Bestechungen und sonstigen gewaltfreien Möglichkeiten war das Kind nicht mehr bereit auch nur einen Schritt in die jeweilige Location zu machen. Dabei waren wir selbst vor Ort. Also alles noch in der komfortablen Eltern-Kind-Zone. Du verstehst: mithopsen, mitsingen, mit auf die Matte fallen. Das ganze Programm.
Wir gaben nach einem halben Jahr auf und fühlten uns von einem Dreijährigen komplett verulkt. Als dann nach monatelanger Pause ein Schreiben kam, dass Viktor unter den Glücklichen sei und in einer Turngruppe aufgenommen sei. Meine Frau wusste schon gar nicht mehr, dass sie ihn dort vor Jahren angemeldet hatte… Wir lachten nur belustigt über das Schreiben und wollten direkt nett, aber ohne Probetraining absagen. Die Blösse wollten wir uns nicht ein weiteres Mal geben. Außerdem: Turnen. Mal im Ernst. Ist das überhaupt ein Hobby für Jungs? Und was machen so Zwerge da schon außer das, was sie eh den ganzen Tag machen: nämlich über Tische und Bänke springen…
Gesagt, getan, wir sagten ab. Am selben Abend schrieb eine Freundin, ob Viktor auch eine Zusage bekommen hätte. Ihre Tochter auch und sie würde gerne dorthin. Also ließ sich Lisa überzeugen, dass sie doch ein Probetraining mitmachen. Sie meinte, es wäre im schlimmsten Falle wie immer und im besten Falle macht es ihm Spaß, da nun ein Kind dabei sei, das er kennt.
Die Ausredenliste
Es war noch über einen Monat hin bis zur ersten Stunde Turnen und wir ließen keine Möglichkeit aus, uns darüber zu amüsieren, dass nun die nächste Nieten-Veranstaltung auf uns wartet. Und wie viele Ausreden er finden würde, um auf der Bank sitzen bleiben zu können. Mein Fuß will nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich bin müde, ich habe Hunger, ich habe Durst, ich will erst einmal nur zuschauen, hier ist es zu kalt, hier ist es zu warm, die Kinder sind langweilig, der Lehrer redet zu laut, Turnschlappen sind nur für Mädchen, ich mag meine Socken nicht ausziehen, nur wenn ich danach Gummibärchen aus dem großen Glas da oben fischen darf… Auch diese Liste ist beliebig erweiterbar.
Lisa und Viktor waren am Turnnachmittag 30 Minuten zu früh vor Ort. Bereits beim Umziehen ging es los: Nein, er wollte auf keine Fall eine kurze Turnhose, sondern eine lange. Nichts half. Um das Probetraining nicht daran scheitern zu lassen, fuhr Lisa mit Viktor zurück zur Kita in der Hoffnung, dort wäre noch eine Jogginghose in seiner Garderobe. Nichts. Genervt fuhr sie wieder zurück und meinte: Entweder die kurze Turnhose oder Du lässt einfach Deine Jeans an. Freudig über diese coole Option seine normale Hose anbehalten zu dürfen, hüpfte Viktor in die Turnhalle und legte direkt los. Er kletterte todesmutig auf alles, was dort bereits aufgebaut war und sprang in die Tiefe. Wenige Minuten später traf auch seine Freundin ein und hüpfte begeistert mit. Die „Turnlehrerin“ erklärte, als die Stunde offiziell begann die Stationen des Parkours und machte dann eine unerschütterliche Reihe an Kinderliedern an. Aramsamsam und Co. Alle Eltern wissen, auf welche CD ich anspiele – beinhaltet die Zahl „30“ und das Wort „Bewegung“.
Spaß ohne Ziel
Nach 50 Minuten unkontrollierten, freien Klettern, Rumhüpfen und Springen war die Probestunde vorbei. Und was soll ich sagen?! Völlige Begeisterung und seitdem ist die Rübe inklusive weiblichem Anhang jede Woche ohne Murren und Diskussionen mit Elan und mutigen Springeinsätzen dabei.
Man kann jetzt auch nicht sagen, dass sie dort nichts lernen. Teilweise müssen die Zwerge wie Äffchen klettern und Geschicklichkeit sowie Körperbeherrschung beweisen. Tun sie auch. Aber ohne Druck und Zurechtweisung, sondern aus freiem Willen und dann, wenn sie sich soweit fühlen. Ansonsten machen sie einfach einen Bogen um die Station und rennen zur nächsten.
Ich gebe es ungern zu, aber es ist, wie es ist: Kleinkinder sind keine großen Fans von vorgegebenen, einschränkenden Hobbies. Sie lieben es wie folgt: Ihr Tempo, ihre Idee dahinter, wie man irgendwo hochklettert oder eben auch nicht.
Learnings 1–5
Learning 1: Meldet euch immer direkt mit einer anderen Familie an, denn mit einem bekannten Gesicht macht es doppelt Spaß. Eltern zählen da eher als „Klar musst Du dabei sein, aber ich brauche meinen Buddy als Sparringspartner, um wirklich motiviert zu sein.“
Learning 2: Manchmal ist der männliche Zwerg (besonders zwischen 2–4 Jahren) selbstbewusster, wenn nicht Mama, sondern Papa am Start ist und ihn begleitet. Bei Zwerginnen scheint dieses Prinzip nicht übertragbar zu sein. Hier müsste ein Psychologe mal ran, um das zu erklären.
Learning 3: Kinder suchen sich von ganz alleine Widerstände, die sie überwinden können. Sie wachsen, indem sie selbst gestellte Aufgaben abarbeiten und persönliche Erfahrungen machen.
Learning 4: Wenn ein Kind beispielsweise im Wald auf einen umgefallenen Baumstamm klettert, sollte es selbst einschätzen können, aus welcher Höhe es hinunterspringen kann. Die Natur hat es so vorgesehen, dass es da besonders anfängt zu kribbeln, wo sich Lust und Angst mischen. In dieser sogenannten Prickelzone entwickeln sich Kinder am schnellsten weiter. Wir Eltern sollten hier nicht zu schnell eingreifen, denn man kann Kindern nicht verordnen, wann sie sich in der Prickelzone befinden. Sie folgen ihrem eigenen Antrieb und wachsen in ihren Körper hinein. Das gibt ihnen Selbstvertrauen.
Learning 5: Nur weil Du eine Sache nicht als Hobby ansiehst, heißt das noch lange nicht, dass Dein Wurm es nicht mega lustig findet und viel mehr Freude daran hat, als wenn es zu viele Regeln gibt.
Und wie sagte ein Kumpel so schön, als ich ihm die Story erzählte: „Wieso überrascht Dich das? Ich fand es noch bis 18 am coolsten, wenn der Sportlehrer am Anfang der Stunde einen Ball in die Halle geworfen hat und sagte ‚Viel Spaß und macht was draus’.“