AUDIENZ BEIM ZWERGENKÖNIG: TROTZANFALL KLAPPE DIE II
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Mit ungefähr 2,5 Jahren fing Viktor am Wochenende nach dem Aufwachen (Mittagsschlaf) fürchterlich an zu Brüllen. Es war unerträglich. Nichts und niemand hatte für ungefähr 30–50 Minuten eine Chance ihn zu beruhigen. Noch nicht einmal unlautere Methoden wie Süßigkeiten interessierten ihn. Im Gegenteil: Wir hatten sogar das Gefühl, dass ihn dieser Erpressungsversuch noch aggressiver machte.
In den Arm nehmen war absolutes Tabu und ein Tobsuchtsanfall auf dem Boden folgte. Wir hatten teilweise Angst, dass er sich verletzte, so wild schlug er um sich. Man war in dem Augenblick ein wenig dankbar nicht gerade an der Supermarkt-Kasse zu stehen. Denn besserwisserische Omis und ihre schlauen Ratschläge liebt man in diesen Momenten besonders.
Alle Versuche scheiterten kläglich
Nachdem wir die ersten Male alles unternahmen diesen Anfall zu beschwichtigen und Viktor aus diesem hysterischen Wahnsinn zu holen, ließen wir ihn irgendwann nur noch gewähren. Es war sowieso egal, denn es machte keinen Unterschied.
Ich gebe zu, wir waren extrem verzweifelt und rätselten über die Gründe für diese für uns unerklärlichen Anfälle. Einige davon waren, dass Viktor den Mittagsschlaf nicht mehr wollte, der ominöse Nachtschreck sein Unwesen treibt (das passte aber nicht zu seinem Verhalten), unbegründete Ängste oder er diesen Wutanfall einfach benötigt, um seine Gefühle zu kanalisieren.
Jedoch hätten wir viel lieber eine Lösung statt einer Erklärung gehabt. Denn ganz ehrlich: So ein Wutanfall geht einem jedes Mal ganz schön an die Substanz.
Wir recherchierten und fanden lediglich heraus, dass das häufig in dem Alter vorkommt und es aber irgendwann von selbst aufhört. Es könne aber Monate dauern. Monate waren definitiv keine Option. Das gab unser eher labiles Nervenkostüm leider nicht her.
Viel Lärm um Nichts?
Und aus dem Nichts hatte Lisa an einem Sonntag eine Eingebung. Sie fragte mich, ob wir Viktor möglicherweise respektlos behandeln, da wir ohne zu fragen plötzlich im Dunkeln vor seinem Bett stehen und ihn rausheben. Vielleicht erschrickt er sich oder er ist noch gar nicht bereit und möchte noch Zeit für sich.
Also klopfte sie nach dem nächsten Mittagsschlaf vorher an die Kinderzimmertür und fragte ganz leise und ruhig das schreiende Ungeheuer, ob sie reinkommen dürfe. Dann fingierte sie ein Gespräch mit Rudi, dem Kuschelaffen auf dem Sofa, dass nicht er, sondern nur Viktor die Erlaubnis geben dürfe. Denn das sei ganz alleine sein Zimmer und da darf nur Viktor entscheiden, wer reinkommen darf oder eben nicht. Alle müssen vorab klopfen und fragen, ob es in Ordnung ist, wenn man das Zimmer betritt.
Der überraschte Viktor saß etwas verdattert in seinem Bett und sagte plötzlich mit einem ganz bestimmten Ton zu dem Affen „Ja Rudi, Du darfst niemanden reinlassen. Nur ich. Das ist MEIN Zimmer.“
Es gab danach viele Gespräche darüber und wir übten gemeinsam: Alle (inklusive Kuscheltiere) mussten klopfen und der Herr des Zimmers (Viktor) entschied von seinem Thron (Bett) aus, wer eine Audienz bei ihm bekam oder vor der Tür bleiben musste.
Seitdem wird grundsätzlich angeklopft. Auch wenn Viktor nachts ruft, wird vorher angeklopft und gefragt, ob man reinkommen darf. Sein Rufen/Schreien hört augenblicklich auf und er antwortet mit normalen Tonfall „Ja, komm rein.“
Es gab vorher Tage, an denen nur Lisa zu ihm gehen durfte und ich wildfuchtelnd aus dem Zimmer rausgescheucht wurde. Seitdem ich klopfe, bin auch ich immer ein gern gesehener Gast und darf genau wie Mama Monster verscheuchen oder bei einer Krankheit Händchen halten.
Und toi toi toi: Bisher gibt es keinen unbegründeten Wutanfall nach dem Mittagsschlaf mehr.
Nachtrag:
Einige Wochen später gab es doch noch einen ähnlichen Wutanfall, als Viktor unbedingt ohne Schuhe in den Garten wollte. Und das, obwohl es bereits Ende September war und wirklich alles andere als sommerlich warm. Da er nicht freiwillig auf mein Rufen reinkommen wollte, packte ich ihn und setzte ihn auf das Sofa ins Wohnzimmer. Und direkt ging der Alarm los. Er schrie sich dermaßen in Rage, dass mir der Schweiß von der Stirn tropfte.
Und nach einiger Zeit wurde mir klar, was ich falsch gemacht hatte: Wieder mal hatte ich respektlos seine Grenze überschritten. Wie würde ich mich fühlen, wenn Lisa mich abends vom Handy wegreißen würde, nur weil sie mein vermeintlich Bestes möchte und sie auf die natürlich wichtige „Familytime“ bestehen würde?! Ich wäre wohl stinksauer und würde ihr sagen, dass ich das respektlos von ihr finde. Denn ich sehe es zwar ein, doch hätte ich es gerne selbst erledigt. Zudem hätte sie mir zumindest eine Vorwarnung inklusive 5 Minuten Reaktionszeit geben müssen.
Ich hatte Viktor (weil ich es konnte) einfach hochgehoben — ohne es ihm vorher anzukündigen. Hätte er die Wahl gehabt, wäre es seine Entscheidung gewesen, ob er meine Drohung in Kauf nimmt oder selbst den Weg ins Haus findet.
Nachdem er sich beruhigt hatte, kam übrigens auch raus, warum er ohne Schuhe rausgegangen ist: „Ich habe gedacht, wenn ich barfuß rausgehe, kommt der Sommer wieder.“ #WishIWasTwoAgain